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Die Zeit vom 6. März 1958, Autor: hst

Wunderschöner deutscher Rhein

Wenn Vater Rhein aus seinem Bett kommt

Der Zeiger des Kölner Pegels rückt auf 7.00 Uhr vor. Aber ein Pegel ist keine Uhr. Wenn sein Zeiger auf „7.00 Uhr“ steht, hat der Rhein einen Pegelstand von ungefähr sechs Meter. „Vielleicht gibt es Hochwasser“, sagte der alte Mann, der auf der Bank der Rheinpromenade sitzt. „Vielleicht..“

6.20 Meter: Städtische Arbeiter kleben Plakate an die Häuserwände: „Hochwassergefahr! Der Bevölkerung der gefährdeten Straßen wird dringend empfohlen ...“ Es folgt ein Katalog von Schutz- und Hilfsmaßnahmen: Daß man den Keller frühzeitig räumen soll; daß man die Versorgungsleitung richtig schützen muß; wo man eine Notunterkunft findet, wenn das Haus unter Wasser steht. Sorgenvoll blicken die Bewohner des Rheinviertels auf die trüben Fluten, die schneller und schneller vorbeifließen.

6.65 Meter: Bis zur Straße sind es noch 35 Zentimeter. Jetzt sind auch die roten Plakate da: Hochwasser. Es folgen die genauen Zahlen: Maxau ... gestiegen 85 cm, Mannheim ... gestiegen 58 cm, Mainz ... gestiegen 46 cm. So rollt es heran. Jetzt tragen die Leute die Einmachgläser und die Kohlen nach oben. An der Hafengasse tuckert schon ein Pumpenmotor: Das Grundwasser steht in den Kellern. 6,75 Meter zeigt der Pegel. Und die Zahl der Spaziergänger hat sich verdreifacht.

7.40 Meter: Das ist am anderen Morgen. Wo am Abend noch die Rheinuferbahn fuhr, die schweren Fernlaster fuhren, die Spaziergänger gingen, der alte Mann sein Bank hatte, da steht jetzt das Wasser, schmutzig-gelb, übelriechend, und spielt an den Treppenstufen des „Wappenhofs“, dort, wo im Sommer die rot-weißen Sonnenschirme stehen und fröhliche Ausflügler singen: O du wunderschöner, deutscher Rhein ... Pegelstand: 7.50 Meter.

7.45 Meter: Da ruft der Hochwasserdienst beim Fischer Franz Annas in Dormagen an: Ob er den Fährdienst übernehmen will... Darauf hat der Fischer Franz Annas schon gewartet. Im Sommer und Herbst fängt er Aale. Jetzt sind keine Rhein-Aale zu fangen. Der Anruf kommt immer dann, wenn alle anderen Fähren eingestellt werden. Ab 7.50 Meter Pegelstand ist der Kölner Vorort Kasselberg vom Land abgeschnitten. Kasselberg ist eine Insel.

7.60 Meter: Eben hat der Bauer Adolf Efting seine letzte Fahrt mit dem Traktor gemacht. Die Zufahrtsstraße, die einzige, steht zwar schon einige Stunden unter Wasser. Aber Efting hat die Leute mit dem Traktor zum Festland befördert, ein bißchen umständlich. „Nur mit Stehplatz“, sagt der Bauer lachend. So fährt er durchs Wasser. Die Straße, die unsichtbare, kennt er genau. Aber die Frauen sagen immer wieder: „Adolf, fahr vorsichtig ...“

7.70 Meter: „Gut, daß du kommst, Franz“, sagen die Leute in Kasselberg, denn der Traktor schafft es nun wirklich nicht mehr. Über eine Stunde ist Franz Annas mit seinem schweren Kahn von Dormagen aus die starke Strömung hinaufgerudert. Nun beginnt er seinen Fährdienst. Die ersten Leute kommen von der Arbeit zurück. Annas wartet, bis zehn Leute im Kahn sind. Dann rudert er los. Er muß einen weiten Bogen machen. Auf geradem Weg läuft der Kahn auf. Noch ist das Wasser niedrig: 7.80 Meter zeigt der Pegel in Köln.

8.20 Meter: Der Bauarbeiter Emil Fischer, nun aushilfsweise Fährmann beim Hochwasserdienst, rudert um 4.30 Uhr die ersten Arbeiter der Frühschicht an Land, denn er hat den Fischer Annas abgelöst. Bei der dritten Tour – wenn der Kahn nur halb voll ist – nimmt er auch die vollen Milchkannen vom Efting-Hof mit. Alles muß seinen Gang gehen. Nur die Schulkinder dürfen zu Hause bleiben.

8.25 Meter: „Jetzt steigt es nicht mehr so schnell“, sagt der Fährmann und fügt hinzu: „Das Schlimmste ist vorbei.“ Ein über hundert Meter breiter Strom fließt jetzt zwischen der Hauptstraße und dem abgelegenen Kasselberg, genau dort, wo der große Bauernhof seine Weiden hat. Und der Emil sagt: „Die sind hin für dieses Jahr ...“

8.35 Meter: Mittags wird es ruhiger – der Betrieb und auch der Strom. „Wollen Sie mit?“ fragt Franz Annas. Ich will. Der Kahn treibt los. Ein arger Wind pfeift über den Strom. Ich schlage den Mantelkragen hoch. „Kalt?“ fragt Annas, „da hätten sie diese Nacht hier sein müssen.“ Nun rudert er durch Gärten, wie man an Obstbäumen und Zäunen erkennt. Zweimal müssen wir uns bücken. Zwischendurch zeigt er nach unten: „Da liegt der Camping-Platz!“ Eine Viertelstunde später landen wir vor dem Haus Kasseiberger Weg 113. An der Mauer sind Hochwassermarken angebracht. In Scheitelhöhe liest man: „Stand am 2. Januar 1929“ und „HW1882“. Der Fährmann meint: „Da haben wir dieses Mal noch Glück gehabt. 1929 waren es fast 2 Meter mehr.“

Die Rückfahrt beginnt mit einem Umweg. Franz Annas braucht Zigaretten. Die gibt es im Gasthaus „Zum Kasselberger Gretchen“. Er rudert bis auf die Veranda und ruft nach oben: „Wirf mal ’ne Packung runter.“ Aus der ersten Etage fallen die Zigaretten in den Kahn. In der Schankstube aber steht das Wasser – achtzig Zentimeter hoch. Der Kölner Pegel zeigt 8.40.